No8 Das Wunder von Puerto Allegre

Es war gerade halb zehn und obwohl die Sonne an diesem Morgen des 24. Oktobers erst über die Häuserspitzen auf den Schulhof blinzelte, berührte die Quecksilbersäule bereits die 30-Grad-Marke. Die Schulglocke läutete schrill und nur wenig später liefen zahllose Kinder über den kargen Steinboden des Pausenhofes. Ausgelassen jagten einige kreuz und quer über das Gelände. Andere unterhielten sich gut gelaunt in kleinen Grüppchen.

Es war ein ganz normaler Tag für die Kinder der San Sebastián-Gemeinschaftsschule in Puerto Allegre. Jeder kannte sich hier in der kleinen Welt des mexikanischen Küstenstädtchens. Nur für den sechsjährigen Roque Sanchez war die Welt heute, genau acht Wochen vor Feliz Navidad, zusammengebrochen. „Es gibt einen Weihnachtsmann, ganz sicher. Meine Mutter hat es versprochen“, hatte er noch eben unter dem lauten Gelächter seiner Mitschüler immer wieder beteuert. Alle waren sich einig, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung der Erwachsenen sei, als Señor Calderon, der Religionslehrer, die Frage an seine Klasse gerichtet hatte; und obwohl der Lehrer mit den warmen, leuchtenden Augen zu beschwichtigen versucht hatte, dass es bis heute niemand genau wissen könne, da der Weihnachtsmann noch nie gesehen wurde, waren sich alle einig: Roque Sanchez hatte unrecht. Mit gesenktem Kopf schlenderte der kleine Junge alleine in die Pause. Er konnte nicht glauben, dass ihn seine Mutter angelogen hatte. Warum auch? Alles hatte sie ihm stets ausführlich erzählt und geduldig erklärt – warum er als Einziger in der Straße ohne Vater aufwuchs, warum sie nicht so viel Geld hatten wie viele andere Familien und eben trotzdem glücklich waren, solange sie immer einen Satz beherzigten: Familie heißt, zusammenzuhalten, zueinander ehrlich und immer füreinander da zu sein. Der Rest des Schultages zog wie ein Film an Roque vorbei. Immer wieder schaute er mit leerem Blick auf den gegenüberliegenden Kirchturm. „Und es gibt ihn doch“, sagte er sich und ballte die Faust in seiner Hose, als er das Klassenzimmer nachdenklich verließ. Auf dem Heimweg stieg er wie immer eine Station vor seiner Haltestelle aus dem Schulbus aus.

An diesem Ort fühlte er sich stets stark: Wenn er auf den mächtigen Steinen saß und sich vor ihm die großen Wellen des Meeres brachen, konnte er sich wegträumen. Wegträumen in ein Land, wo er nicht mehr alleine wäre. Wo er mit seiner Mutter in einem großen Haus leben würde. Sein Vater würde ihn morgens mit dem Wagen zur Schule fahren und sich mit einem Kuss auf die Stirn von ihm verabschieden. Roque starrte auf den weißen Schaum, den die Wellen auf die Wasseroberfläche malten, und stellte sich vor, es wäre Schnee – Schnee, der die gesamten Straßen und Vorgärten des feinen Wohnviertels wie mit einer weißen Decke verhüllte. Schnee, der dann am 24. Dezember unter den Kufen des Weihnachtsmann- Schlittens knirschte, wenn er beim Ausliefern der Geschenke auch zu ihm käme. Während Roque vor sich hinträumte, spielte der Wind mit einer Zeitungsseite, die genau auf ihn zuflatterte. Kurz vor seinen Füßen landete das Blatt und schmiegte sich an einen Stein. Als er seinen Blick flüchtig darüber schweifen ließ, fuhr ihm der Schrecken durch alle Glieder: Das Bild auf der Seite zeigte keinen Geringeren als den Weihnachtsmann! Mit weißem Rauschebart saß er im strahlend roten Samtmantel auf einem Holzstuhl. Vor ihm waren kunterbunte Geschenkkartons aufgebaut. Unter dem Bild stand eine Adresse. Na also! Wie sollte jemand, den es angeblich gar nicht gibt, eine Adresse haben? Das war der Beweis! Roque faltete die Zeitungsseite und steckte sie sorgfältig in die Innentasche seines dunkelblauen Schuljackets. Zu Hause angekommen, begrüßte er seine Mutter mit einem Kuss. Er würde ihr nichts von der Sache erzählen. Es sollte auch für sie eine Überraschung sein, wenn sein Plan aufging. Roque hatte nämlich auf dem Nachhauseweg einen Entschluss gefasst: Er wollte an den Weihnachtsmann schreiben und ihn davon unterrichten, dass er schleunigst herkommen müsse, weil niemand in seiner Klasse mehr an ihn glaube.

Roque wusste, dass dies das erste Mal wäre, dass sich der Weihnachtsmann zeigen würde. Es bedurfte eines richtigen Wunders, damit sein Wunsch in Erfüllung ging. Doch Wunder hatte es ja in der Vergangenheit auch immer gegeben, sonst müsste er nicht die unzähligen Namen so vieler Heiliger im Religionsunterricht lernen, die solche vollbracht hatten. Und was manch einer dieser Heiligen so kann, konnte der Weihnachtsmann schon lange! Gesagt, getan – noch in dieser Nacht sollte es passieren! Nachdem seine Mutter das Licht ausgeschaltet und die Tür hinter sich geschlossen hatte, knipste Roque seine Taschenlampe unter der Bettdecke an. Er hatte bereits alles vorbereitet: Bleistift, Kuvert, Briefpapier und die Zeitungsseite hatte er unter der Decke versteckt. Roque begann, zu schreiben. Es fiel ihm erstaunlich leicht – was im düsteren Klassenzimmer eine Qual war, ging im hellen Lichtkegel der Taschenlampe wie von selbst. Der kleine Mexikanerjunge schrieb sich den ganzen Frust von der Seele und bat den Weihnachtsmann im letzten Absatz eindringlich, die Rentiere vor den mächtigen, goldenen Schlitten zu spannen und sofort loszufahren. Roque faltete den Brief, steckte ihn ins Kuvert und verschloss es sorgfältig. Am nächsten Morgen lief er gleich zum Hotel Paraíso in der Calle Obisbo, wo der nächstgelegene Briefkasten rechts der Eingangstür des restaurierten Herrschaftshauses stand. Auf Zehenspitzen balancierte er sein Kuvert in den Schlitz. Erleichtert tänzelte er sodann die breite Steintreppe hinunter zur Haltestelle an der Straße, die direkt zur Schule führte. Von nun an wartete Roque jeden Tag auf den Weihnachtsmann. Als nach einer Woche immer noch kein goldener Schlitten angeflogen kam, entschloss er sich, nochmals einen Brief zu schreiben.

blank
blank

So ging das Woche für Woche. Immer wieder lief er über die breite Treppe zum Briefkasten. Nur am Morgen des 18. Dezembers schien es, als käme er umsonst: Wo normalerweise der Briefkasten stand, leuchteten die Lichter eines riesigen Weihnachtsbaumes! „Wo ist denn der Briefkasten?“, fragte Roque aufgeregt den Portier an der Eingangstür. „Den haben wir jetzt vor Weihnachten drinnen an der Rezeption“, antwortete dieser freundlich und beeilte sich hinzuzufügen: „Geh‘ ruhig hinein!“ Ehrfürchtig drückte er sich gegen die mächtige Drehtür und fand sich in der mondänen Hotellobby wieder. Über ihm ein riesiger Kronleuchter, stand er mit weichen Knieen vor dem großen Rezeptionsschalter. Schüchtern streckte er sich und erhob zitternd seine Stimme: „Entschuldigen Sie, darf ich meinen Brief bei Ihnen abschicken?“ „Gerne, kleiner Mann“, bot ihm die Rezeptionistin mit freundlicher Stimme ihre Hilfe an. Als sie den Brief in Händen hielt, fiel es ihr sofort auf: Es fehlte eine Auslandsbriefmarke! Schließlich war der Brief an die Redaktion einer amerikanischen Zeitung in New York adressiert. Sie wollte gerade darauf hinweisen, da sah sie den kleinen Jungen nur noch durch die große Drehtür huschen. So brachte sie den Brief ins Sekretariat. Die Chefsekretärin konnte ihr Schmunzeln nicht verbergen, als sich die junge Rezeptionistin verlegen durch ihre tiefschwarzen, schulterlangen Haare strich und sich leise räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen. Kein Wunder, ins Vorzimmer des Direktors kam ein Lehrling nicht alle Tage. Mit aufmunternder Stimme fragte die Chefsekretärin, wie sie helfen könne. Als die junge Rosalía vom Empfang mit ihren Ausführungen fertig war, zog die Sekretärin einen Stapel weißer Umschläge aus ihrer obersten Schublade hervor. „Sehen Sie, so geht das schon seit Wochen! Einmal pro Woche ist immer einer dieser unzureichend frankierten Briefe dabei“, erzählte sie genervt und fuhr fort: „Wenn wenigstens ein Absender darauf wäre, könnten wir etwas unternehmen“. Tatsächlich – das hatte die Rezeptionistin bei aller Konzentration auf die Adresse und die Briefmarke gar nicht bemerkt: Es stand kein Absender darauf!

Gemeinsam entschlossen sich die beiden, einen der Briefe zu öffnen. Jetzt, da sie wussten, dass ein kleiner Junge der Absender war, hatten sie bezüglich des Postgeheimnisses kaum etwas zu befürchten. Vielleicht würden sie ja einen Hinweis auf den unermüdlichen Verfasser der Briefe finden – und so war es: Roque hatte jeweils am Ende seiner Briefe immer den Weg von der Schule zu seinem Haus beschrieben; denn die San Sebastián-Schule würde der Weihnachtsmann ja wohl kennen! Diese Schule kannte auch Rosalía. Schließlich besuchte sie die zum dürftigen Schulgebäude umgebaute, ehemalige Kaserne bis letzten Sommer selbst. Der Wegbeschreibung nach, kannte sie auch das Haus von Roque – ihre Freundin María wohnte im selben Block. Doch was tun, war jetzt die Frage. Die Chefsekretärin, Señora Valdez, hatte einen Geis tesblitz: „Wie wäre es, wenn wir alle Briefe an die Redaktion dieser New Yorker Zeitung senden?“ Rosalía schaute sie ungläubig an. „Ja, stellen Sie sich vor, die haben vielleicht die Mittel, einen Weihnachtsmann anzuheuern und alle Kinderaugen in der Schule zum Leuchten zu bringen“, meinte Señora Valdez und fügte hinzu, dass der kleine Roque dann sein Wunder hätte und die Bestätigung, dass man ein solches durch seinen Fleiß erreichen könne. Rosalía hatte Feuer gefangen. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Eilig packte sie die Briefe in ein Paket und füllte den Adressaufkleber aus. Señora Valdez tippte indes schon das Anschreiben an die Chefredaktion der Zeitung. Noch am gleichen Tag verließ das Paket das Hotel Paraíso mit Ziel New York.

blank
blank

Zwei Tage später klingelte das Telefon in der Empfangshalle. Ein Mr. Bloomberg war in der Leitung und verlangte nach Señora Valdez. Überglücklich nahm diese die Nachricht des Chefredakteurs auf, dass Roque den Wettbewerb um den schönsten Weihnachtsbrief dieses Jahr gewonnen hatte. Seinen Wunsch würde man gerade noch rechtzeitig erfüllen können. Mr. Bloomberg hatte bereits alles organisiert: Einen Weihnachtsmann mit Rentier- Schlitten und zwei Reporter, die am 23. Dezember in Roques Schule erscheinen würden. Auf diesem Schlitten hätten sie für jedes Kind ein goldenes Päckchen mit Spielsachen dabei, die ein großer Kunde der Zeitung gespendet hatte. Mr. Bloomberg hielt Wort und ließ das Wunder (von New York aus) geschehen: Genau am 23., kurz vor Schulschluss, donnerte der Holzschlitten um die Ecke! Das Läuten der Glocken und das Poltern der Rentierhufe hatte die Kinder aufgeschreckt. Nichts konnte sie mehr auf den Plätzen halten, alle rannten zum Fenster – und unten winkte doch tatsächlich kein Geringerer als der Weihnachtsmann! Roque standen die Tränen in den Augen. Er war der Erste, der hinunterrannte und er bekam das größte Geschenk von allen. Mit großen Augen sahen die Kinder, wie Roque auf den Schoß des Weihnachtsmanns kletterte und dieser ihm einen persönlichen Brief leise ins Ohr flüsterte. Dann bat der Weihnachtsmann Roque um Hilfe beim Verteilen der vielen, vielen Geschenkpakete an seine Mitschüler. Ein Wunder war geschehen für den kleinen Jungen, der den Glauben an den Weihnachtsmann nie verloren hatte.

UNSERE WEIHNACHTSGESCHICHTEN

  • blank
  • blank
  • blank
  • blank
  • blank
Load More Posts