No9 Sternstunden in der Wüste

Es war ein richtig eiskalter Wintermorgen. Die Rollen der Koffer knirschten auf dem frisch gefallenen Schnee und nicht nur die Außentemperaturen lagen an diesem Tag unter Null. Auch die Stimmung in meiner Familie bewegte sich so um den Gefrierpunkt. Dabei war doch heute mein heißersehnter Ferienbeginn. Ägypten, das Land der Pharaonen, Kamele und kunterbunten Fische wartete auf uns. – Oh, ich habe mich ja noch nicht vorgestellt: Ich bin Harry Bernstein, das sechsjährige Kind zweier erwachsener Streithähne!

Am zweiten Urlaubstag nun stand eine Wüstensafari auf dem Programm. Bereits morgens um sieben Uhr wirbelte der Jeepkorso eine dichte Staubwolke auf. Beim Start noch jubelnd und jauchzend, verstummten alle schlagartig, als klar wurde, dass dieser „Ausflug zu den Nomaden“ von den Fahrern zu einem kleinen Wettrennen zweckentfremdet wurde. Am Ziel der Safari heil angekommen, fand ich Tom Louis, einen kleinen Jungen aus einem der anderen Jeeps, viel spannender als die Brotteig knetenden Frauen. Während die Erwachsenen das Brot begeistert probierten, nutzte ich die gute Stimmung und fragte meine Mutter, ob ich im Jeep von Tom Louis und dessen Eltern zurückfahren dürfte. Ihr zögerliches Nicken bedeutete mir ein „Ja“. Auf einmal ging dann alles sehr schnell. Der Führer klatschte in die Hände und zügig ging es los. Eben noch das salzlose Brot der Nomadenfrauen kauend, wurde die ganze Gruppe von den Jeeps verschlungen und jagte davon – ohne mich, man hatte mich einfach vergessen! Keine Spur von meinen Eltern und auch nicht von Tom Louis. Der Dorfälteste legte eine Wolldecke auf meine Schultern und begleitete mich zum Lagerfeuer. Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen. Nach einem sehr leckeren Lammfleischgericht mit Couscous legte ich mich neben den alten Nomaden, der mich im Laufe des Abends immer wieder mit seiner tiefen Stimme beruhigt hatte.

Die Glut knisterte noch, doch das Feuer war bereits erloschen. So konnte ich den funkelndsten Sternenhimmel meines bisherigen Lebens sehen. Ich wusste bis dahin nicht, dass das Firmament nur so vor unzähligen Lichtern glitzern konnte. Erst der tiefschwarze Vorhang der Wüstennacht, der sich über das Nomadendorf gelegt hatte, gab den Blick zu diesem einmaligen Naturschauspiel frei. Der alte Mann gab mir einen leuchtenden Papierstern, in dessen Innerem ein Kerzenlicht loderte. Sein Licht erhellte mein trauriges Herz schnell. Es ist ein Wunschstern, erklärte mir der Nomade in gebrochenem Deutsch: „Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her”. Ich wünschte mir sehnlichst, wieder bei meinen Eltern zu sein. Und augenblicklich wurde ich so ruhig, dass ich wohl schnell eingeschlafen bin. Doch schon nach kurzer Zeit wachte ich auf – in den Armen meiner erleichterten Mutter. Meine Eltern waren zurückgekommen, um mich zu holen. Seit diesem Tag habe ich sie nie mehr streiten gehört. Die Angst um mich hatte wohl zu ihrem Umdenken geführt. Doch die Sorgen, die sie sich meinetwegen gemacht hatten, waren unbegründet, denn schließlich fühlte ich mich bei meinem Stern geborgen. Noch heute, zwanzig Jahre später, habe ich den Papierstern. Mittlerweile erstrahlt er allerdings nicht mehr mit Kerzenlicht, sondern durch eine Glühlampe. Seine Wirkung ist jedoch die gleiche geblieben: Immer, wenn ich mir Sorgen mache, erleuchte ich ihn am Abend – und dann erinnere ich mich an den ägyptischen Nomaden und wie damals alles wieder gut wurde!

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